Gesunde Menschen

Nein, es folgt kein Bericht über das Leis­tungs­ver­mö­gen unse­rer in den ver­gan­ge­nen zehn Mona­ten durch “har­te Arbeit” gestähl­ten Kör­per.

Seit unse­rem kur­zen Auf­ent­halt in Ciu­dad Bolívar sind wir ein gan­zes Stück wei­ter in Rich­tung der kolum­bia­ni­schen Gren­ze vor­ge­rückt. Zuerst ver­schlug uns die Rei­se nach Coro, eine der ältes­ten Städ­te des Kon­ti­nents. Anders als in vie­len ande­ren Tei­len des Lan­des, wo die letz­ten archi­tek­to­ni­schen Über­res­te ver­gan­ge­ner Kolo­ni­al­zei­ten im Sumpf der schnell wach­sen­den Geschäfts­vier­tel unter­ge­gan­gen sind, ist hier ein klei­ner, sehr sehens­wer­ter Teil der Kolo­ni­al­ar­chi­tek­tur erhal­ten geblie­ben. Seit 1993 gehört die Alt­stadt sogar zum UNESCO-Welt­kul­tur­er­be. Trotz­dem konn­ten wir auch hier zum wie­der­hol­ten Male ein Phä­no­men beob­ach­ten, wel­ches viel­leicht als “kol­lek­ti­ve prä­so­zia­lis­ti­sche Läh­mungs­er­schei­nung” bezeich­net wer­den könn­te.

Die Stim­mung in Vene­zue­la ist schlicht eine voll­kom­men ande­re, als die in ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern, die wir bis­lang besucht haben (bis auf Para­gu­ay, Suri­na­me und die Guya­nas sind das sogar alle). Als rela­tiv ver­läss­li­cher Indi­ka­tor für die momen­ta­ne Gemüts­la­ge des Vol­kes hat sich bis­lang der Haupt­platz (Pla­za de Armas — in Vene­zue­la Pla­za Bolívar) bewährt. Wer etwas zu ver­kün­den hat (und sei es die Bot­schaft Jesu Chris­ti), gegen etwas demons­trie­ren möch­te, sich in aller Öffent­lich­keit betrin­ken will oder sonst ein­fach etwas los­zu­wer­den hat, geht nor­ma­ler­wei­se zur Pla­za, dem Zen­trum des öffent­li­chen Lebens einer jeden Stadt. Wie gesagt: nor­ma­ler­wei­se. Nicht so in Vene­zue­la. Nicht nur die Pla­za selbst, son­dern gleich die gan­ze Alt­stadt wirkt see­len­los und ver­las­sen. Men­schen­lee­re Stra­ßen, von Cafés, Bars und Restau­rants ganz zu schwei­gen. Die rega­le in den Super­märk­ten sind zu einem guten Teil leer, Milch- und ande­re Frisch­pro­duk­te Man­gel­wa­re. Anfangs haben wir ver­sucht, das auf Sonn- und Fei­er­ta­ge, spä­ter auf das uner­träg­lich hei­ße Kli­ma zu schie­ben. Doch all dies kann letzt­end­lich nicht als Erklä­rung dafür die­nen, war­um man irgend­wie das Gefühl nicht los wird, dass ein guter Teil der Bevöl­ke­rung im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes wie para­ly­siert wirkt. Die­se Annah­me wird gestützt von den zahl­rei­chen Taxi­fah­rern, mit denen wir gespro­chen haben (eine Grup­pe von Men­schen, die eben­falls als guter gesell­schaft­li­cher Indi­ka­tor dient). Vie­le Leu­te bekla­gen sich über die groß­zü­gi­gen Geschen­ke ihres Prä­si­den­ten “Coman­dan­te” Hugo Chá­vez an sei­ne “sozia­lis­ti­schen Brü­der” in Cuba und Boli­vi­en, wäh­rend im eige­nen Land noch nicht ein­mal genug Geld zur Ver­fü­gung steht, die weni­gen exis­tie­ren­den Stra­ßen in einen erträg­li­chen Zustand zu brin­gen. Wäh­rend die­se Dis­kus­si­on im Grun­de ja gar nicht mal so weit ent­fernt von den Sche­re­rei­en unse­res Poli­tik-All­tags ent­fernt lie­gen (“Den­ne Zazi­ki-Fres­ser bezah­le ‘se de Gyros un uff de Vog­gel­stang’ wächst ‘s U’kraut uffm Trott­wa!”), ist es vor allem die rasch wach­sen­de Kri­mi­na­li­tät (la inse­gu­ri­dad), die den Men­schen vor allen Din­gen in den gro­ßen Städ­ten Angst macht.

Man kann von die­sem Prä­si­den­ten sicher hal­ten, was man will. Die Fähig­keit, zu pola­ri­sie­ren und die Men­schen dazu zu brin­gen, eine eige­ne poli­ti­sche Mei­nung zu ent­wi­ckeln, kann im Kon­text der Poli­tik­ver­dros­sen­heit so man­chen west­li­chen Staa­tes wohl durch­aus als posi­ti­ve Eigen­schaft gewer­tet wer­den. Wie kom­plex das The­ma Poli­tik in Vene­zue­la eigent­lich ist, kann man viel­leicht an der Aus­sa­ge eines jun­gen, ambi­tio­nier­ten Künst­lers aus einem “Aka­de­mi­ker-Haus­halt” (wie der Sozio­lo­ge zu sagen pflegt) able­sen, mit dem wir uns in Coro einen gan­zen Abend lang über die­ses The­ma unter­hal­ten haben. Im Kon­text der vor­an­schrei­ten­den Ver­staat­li­chung gro­ßer Fir­men hat sich Chá­vez schon mehr­mals an die größ­te Braue­rei des Lan­des “Polar” her­an­ge­wagt. Bis­lang ohne Erfolg. So gespal­ten die Mei­nun­gen im Volk sind, das Bier ver­ei­nigt über alle poli­ti­schen Gren­zen hin­weg. “Nehmt uns alles, was ihr wollt, aber Fin­ger weg von unse­rem Bier!”

So banal das klin­gen mag, so viel sagt es doch auch über die Ein­stel­lung gegen­über der Poli­tik nicht nur des vene­zo­la­ni­schen Vol­kes aus. In gro­ßen Tei­len des Kon­ti­nen­tes war­ten die Men­schen seit der Wie­der­erlan­gung ihrer “Unab­hän­gig­keit” und dem Sieg über die Spa­ni­sche Kro­ne bis heu­te auf “Demo­kra­tie”. Sie sind schlicht­weg dar­an gewöhnt, dass sie vom Staat abso­lut nichts zu erwar­ten haben. Im Gegen­teil: sie wer­den wei­ter und wei­ter aus­ge­beu­tet. In einem Brief an Gene­ral Juan José Flo­res vom 9. Novem­ber 1830 pro­phe­zeit Simon Bolívar, der gefei­er­te Befrei­er Latein­ame­ri­kas, fol­gen­des:

Sie wis­sen, dass ich zwan­zig Jah­re regiert habe und nicht mehr als zu eini­gen weni­gen, wah­ren Schluss­fol­ge­run­gen gekom­men bin: 1. Ame­ri­ka ist für uns nicht regier­bar. 2. Der, der einer Revo­lu­ti­on dient, gibt sich dem Unsinn hin. 3. Das Ein­zi­ge, was in Ame­ri­ka getan wer­den kann, ist zu emi­grie­ren. 4. Die­ses Land wird nar­ren­si­cher in die Hän­de der zügel­lo­sen Mas­se fal­len, um danach von fast unbe­kann­ten, klei­nen Tyran­nen über­nom­men zu wer­den. 5. Aus­ge­rot­tet durch Ver­bre­chen und aus­ge­stor­ben an der Wild­heit wer­den sich nicht ein­mal die Euro­pä­er dazu her­ab­las­sen, uns für sich zurück­zu­er­obern. 6. Wenn es mög­lich wäre, dass ein Teil der Erde zurück zum pri­mi­ti­ven Cha­os gelän­ge, wären dies die letz­ten Momen­te in Ame­ri­ka … Mein Rat als Freund an Sie: Wenn Sie sich irgend­wann kurz vor dem Ver­lust Ihrer Posi­ti­on sehen, ver­las­sen Sie sie mit Ehren von sich aus: Nie­mand stirbt an Land an Hun­ger.“

Vie­le die­ser Vor­aus­sa­gun­gen haben sich mitt­ler­wei­le, fast 200 Jah­re spä­ter, in erstaun­li­cher Art und Wei­se bewahr­hei­tet. Und trotz oder gera­de des­we­gen wis­sen sich die Men­schen hier viel eher selbst zu hel­fen. Es kommt ihnen zwar kei­ne Unter­stüt­zung zu, dafür schaut ihnen aber auch nie­mand auf die Fin­ger. Steu­ern sind für den nor­ma­len Bür­ger ein Fremd­wort, wer ein Restau­rant auf­ma­chen möch­te, kauft sich einen Herd, Tische, Stüh­le und hängt ein Pla­kat auf die Stra­ße: “Si, hay comi­da”. Von büro­kra­ti­schen Hür­den kann da kei­ne Rede sein. Not macht erfin­de­risch. Wenn auch erzwun­gen, ist die­se Ein­stel­lung doch höchst beein­dru­ckend und effek­tiv.

Genug Poli­tik. Zurück zu unse­rer momen­ta­nen Rea­li­tät. Der eigent­li­che Haupt­grund für unse­ren Coro-Auf­ent­halt war der Natio­nal­park “Los Méda­nos”, der durch sei­ne bis zu 30 Meter hohen Sand­dü­nen beim Besu­cher den Ein­druck erweckt, er befin­de sich tat­säch­lich mit­ten in der Saha­ra. Ledig­lich die ver­ein­zel­ten Lagu­nen inmit­ten der Wüs­te erin­nern einen dar­an, dass man sich auf einem ande­ren Kon­ti­nent befin­det.

Die Dünen­land­schaft bei Coro

Die Wüs­te lebt!

Son­nen­un­ter­gang im Natio­nal­park Méda­nos de Coro

Am fol­gen­den Tag mach­ten wir uns für zwei Tage auf den Weg auf die Pen­in­su­la de Para­guaná. Nicht etwa, um uns eine der welt­größ­ten Erd­öl-Raf­fi­ne­ri­en in Pun­to Fijo anzu­schau­en. Noch viel abar­ti­ger: wir hat­ten es uns als Ziel gesetzt, die ein­zi­ge Erhe­bung der Halb­in­sel, die sonst flach wie ein Pfan­nen­ku­chen ist, zu bestei­gen. Den Cer­ro San­ta Ana, der über 800 Meter hoch über dem Rest der Insel thront. Dass wir den Auf­stieg erst gegen 8.30 Uhr began­nen, stell­te sich schnell als Dumm­heit her­aus, da hier ab 9 Uhr mor­gens Tem­pe­ra­tu­ren von über 30 Grad herr­schen und einem das Hirn wort­wört­lich “ver­brannt” wird. Die ein­zi­gen bei­den Grin­gos weit und breit klet­tern zur denk­bar ungüns­tigs­ten Tages­zeit auf einen Berg, den sich jeder halbs­wegs ver­nünf­ti­ge Ein­hei­mi­sche lie­ber bei einem eis­ge­kühl­ten Bier­chen aus der Fer­ne anschaut…

Anschlie­ßend fass­ten wir den Ent­schluss, der uner­träg­li­chen Hit­ze zu ent­flie­hen und sind seit­dem in Méri­da inmit­ten der vene­zo­la­ni­schen Anden. Das Kli­ma ist ange­nehm, die Stadt unge­wöhn­lich belebt. Und obwohl wir uns gera­de noch in der Regen­sai­son befin­den, woll­ten wir es uns nicht neh­men las­sen, die ein­zig­ar­ti­ge Berg­welt in der Umge­bung zu erkun­den. Auf einer vier­tä­gi­gen Tra­ver­se stie­gen wir von 3.600 Metern fast auf Mee­res­spie­gel-Niveau ab und konn­ten dabei jeg­li­che Kli­ma- und Vege­ta­ti­ons­zo­nen von Pára­mo über hoch­an­di­nen Nebel­wald bis hin­un­ter in den immer­feuch­ten Tro­pen­wald durch­wan­dern. Die Beson­der­heit lag die­ses mal jedoch vor allen Din­gen an der Art der Unter­kunft. Am Ende jedes Tages konn­ten wir uns jeweils über frisch zube­rei­te­tes Essen einer umwer­fend net­ten Bau­ern­fa­mi­lie freu­en. Die Bau­ern­häu­ser (“Mucup­o­s­a­das”) sind jeweils Teil eines Wege­net­zes, der die abge­le­ge­nen Höfe mit­ein­an­der ver­bin­det. Die Häu­ser sind jeweils zwi­schen sechs und zehn Stun­den von­ein­an­der ent­fernt und lie­gen alle­samt abge­schie­den inmit­ten atem­be­rau­ben­der And­en­tä­ler. Für uns eine ein­ma­li­ge Chan­ce, das Wan­dern zu ver­bin­den mit dem Ken­nen­ler­nen der Lebens­wei­se der Men­schen, abseits jeg­li­cher Städ­te und Dör­fer.

Einer der Bau­ern­hö­fe auf dem Mucup­o­s­a­das-Trek, auf denen wir eine Nacht ver­brin­gen durf­ten

Aca hay gen­te sana. No hay delin­cuen­cia, aca es segu­ro.”

Gen­te sana — gesun­de Men­schen. Kei­ne Kri­mi­na­li­tät. Das ist fuer die Men­sche in den Ber­gen wah­re Lebens­qua­li­tät. Und nicht nur das. Kein Lärm, kei­ne Hek­tik, kei­ne Ter­mi­ne. Das Leben in der Sat­dt als Hor­ror­sze­na­rio. Die Men­schen hier in ihren ver­meint­lich ein­fa­chen Lebens­um­stän­den sind wahr­lich reich. Und das schö­ne ist, dass sie einen dar­an teil­ha­ben las­sen. Offe­ne, inter­es­sier­te, extrem warm­her­zi­ge Men­schen. Sie füh­ren ein Leben, das dem unse­ren so fern wirkt, um das sie aber (zumin­dest von uns) zwei­fels­frei benei­det wer­den. Es sind die­se bestimm­ten Momen­te einer lan­gen Rei­se, in denen man merkt, wie viel es Wert ist, so weit gereist zu sein. In die­sen Momen­ten gehen vie­le Lich­ter auf ein­mal an, weil man dabei ist, etwas für’s Leben zu ler­nen, weil man befä­higt wird,  Schlüs­se zu zie­hen. Wafür lohnt es sich zu arbei­ten, was ist wirk­lich not­wen­dig, um wah­res Glück und wah­re Zufrie­den­heit zu errei­chen? Und so pathe­tisch das klin­gen mag: in was für einer ver­rück­ten Welt leben wir eigent­lich? Es ist ein gro­ßes Geschenk, sol­che Men­schen zu tref­fen und wir müs­sen ihnen dafür dank­bar sein, dass sie ein Stück ihres Glü­ckes (und das Schö­ne ist, dass sie wis­sen, was sie für ein Glück haben!) mit uns tei­len. Neben all den land­schaft­li­chen Schön­hei­ten, die uns tag­täg­lich umge­ben, sind es doch vor allem die zwi­schen­mensch­li­chen Begeg­nun­gen, die den wah­ren Wert eines solch lan­gen Auf­ent­hal­tes in einem ande­ren Kul­tur­kreis aus­ma­chen. Die­se Erfah­run­gen sind durch kein Geld der Welt zu bezah­len. Es sind Erfah­run­gen, die die Kraft besit­zen, eine wirk­li­che Ver­än­de­rung her­vor­zu­ru­fen. Und das Gefühl, für Ver­än­de­run­gen emp­fäng­lich zu sein, ist ein ein­zig­ar­ti­ges.

1 Comment

  1. mensch felix, du mußt! doch ein­fach ein schrei­ber­ling wer­den..
    tau­send küs­se und grü­ße, wei­ter glück­li­che zei­ten für die letz­ten wochen.…eure me-mo

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