Der Chocó ist ein verrückter Ort! Man kann es einfach nicht anders beschreiben. Etwa drei Wochen haben wir insgesamt in diesem Departement verbracht, das vermutlich so reich an Kontrasten ist wie nur ganz wenige andere Orte auf dieser Welt. Seitdem La Violencia, der bewaffnete Binnenkonflikt, den Chocó im Jahre 2001 erschütterte, verirrt sich kaum mehr ein Tourist hierher. Die wenigen, die die Reise auf sich nehmen, werden jedoch reich belohnt.
Wenn wir über den Chocó sprechen, so muss man dazu sagen, dass wir uns auf ein paar wenige kleine Dörfer an der Pazifikküste (Bahía Solano, El Valle, Paerque Nacional Natural Ensenada Utría, Nuqui, Guachalito, Joví, Arusí) und die Gemeinden Capurganá und Sapzurro an der Atlantikküste beziehen. Doch dieser kleine Ausschnitt hat bei uns durchaus Spuren hinterlassen.
Nachdem wir den Teil an der Atlantikküste schon vor einigen Wochen besucht hatten, haben wir uns dieses Mal auf den Weg gemacht, die Pazifikküste zu erkunden. Da die Ortschaften im Wesentlichen aus ein paar matschigen Straßen bestehen und die 8.000-Einwohner-Grenze niemals überschritten wird, ist es wenig verwunderlich, dass keine Straßen in diesen isolierten Teil des Landes führen. Wir haben uns gegen das Flugzeug und für die Reise auf einem Frachtschiff entschieden, das einmal pro Woche von Buenaventura nach Bahía Solano fährt. 22 Stunden Fahrt auf einem gnadenlos überladenen Schiff. Extremer Wellengang. Demenstprechend gering fiel dann auch die Nachfrage nach dem angebotenen Essen aus. Und wenn gegessen wurde, landete die Hälfte davon dann lediglich leicht anverdaut im Meer…
22 Stunden Fahrt sind für die Distanzen hier keine lange Zeit. In diesem Falle jedoch bedeutete die Fahrt eine Reise in ein andere Welt. Ein drastischer Unterschied zu jedem anderen Ort in diesem in sich schon so heterogenen Land. Aufgrund seines Reichtums an Bodenschätzen, vor allem Gold, hat der Chocó eine relativ lange Tradition kolonialer Ausbeutung hinter sich. Die heute dort lebenden Menschen sind bis auf wenige übriggebliebene Ureinwohner fast ausnahmslos direkte Nachfahren afrikanischer Sklaven. Würde man nicht wissen, dass man in Südamerika wäre, würde man sich in Afrika wähnen.
Der Chocó ist auch heute noch das reichste Departement im ganzen Land. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten Menschen dort in größerer Armut leben, als anderswo in Kolumbien. Die Korruption ist auch hier der Grund allen Übels. Ein anderes, mindestens genauso schwerwiegendes Problem liegt in der Topografie und der strategisch wichtigen Lage des Departments begründet: durch seine abgeschiedene, schwer zugänglichen Lage mitten im Urwald und dem Zugang sowohl zu Pazifik wie Atlantik hat sich der Chocó zu einem der Zentren des Drogenanbaus und vor allen Dingen des Drogenhandels entwickelt. Die strategisch wichtigsten und meist frequentierten Routen des Kokainhandels führen direkt vor der Küste entlang. Dementsprechend wimmelt es an der Stränden und in den Ortschaften nur so vor Soldaten. Die Situation in den touristisch zugänglichen Gebieten hat sich dadurch verbessert, nur einen Steinwurf davon entfernt beginnt jedoch ein gesetzloses Gebiet, in dem die Drogenkartelle, Paramilitärs und Guerillas wie eh und je um ihre Vormachtstellung kämpfen. Auch interessant: im Chocó haben wir zum ersten Mal Menschen getroffen, die im Zusammenhang mit dem Drogengeschaeft das Wort “Krieg” in den Mund genommen haben. Die Mehrheit spricht, wenn sie überhaupt darüber spricht, von “Problemen”.
Die Gegensätze sind umwerfend.
Der Dschungel wächst fast ins Meer hinein. Kilometerlange graue Sandstrände ziehen sich gesäumt von Kokospalmen soweit das Auge reicht die Küste entlang. Wendet man sich dem Meer zu, so kann man vom Strand aus Buckelwale aus dem tiefblauen Wasser springen sehen. Dreht man sich um, tut sich eine grasgrüne Wand aus scheinbar undurchdringbarem Dschungel auf. Findet man doch mal einen kleinen Pfad in den Regenwald, sieht und hört man es wachsen und gedeihen. Unzählige Süßwasserflüsse, voll von blauen Süßwasser-Garnelen, schlängeln sich ihren Weg in den Pazifik und stürzen in wunderbaren Wasserfällen durch den Urwald. Man muss sich also zu allem Übel auch noch entscheiden, ob man nun ins Meer springen soll oder ein erfrischendes Bad in einer Gumpe mitten im Dschungel nehmen soll.
Die Nächte im Chocó gleichen einem Konzert: nie zuvor haben wir eine solch ohrenbetäubend laute Stille erlebt. Geweckt wir man durch das Geschrei von Tucanen. Schaut man unter Wasser, schwimmen einem sofort Kugelfische, Rochen und Korallenfische in allen Farben, Formen und Größen unter die Taucherbrille. Eine im wahren Sinne beängstigende Schönheit!
Gegessen wird ganz “einfach” das, was da ist: Garnelen, Thunfisch, Kokosreis, Yucca. Sancocho de Pescado (Fischsuppe zubereitet mit Koriander und Kokosmilch) zum Mittag- und Abendessen. Dazu irgendwelche Früchte, von denen man wahrscheinlich noch nicht einmal in den Nachbarländern etwas gehört hat. Über die mangelnde Abwechslung wollten wir uns dieses mal jedenfalls nicht beklagen.
Das, was die Erfahrung hier jedoch zu etwas ganz besonderem und einmaligem macht, sind (natürlich neben den Buckelwalen, die jederzeit neben den Booten auftauchen können und dies auch tun!) die Menschen. Selten haben wir uns auf Anhieb unter fremden Menschen so wohl gefühlt. Der Umgang untereinander ist mindestens eine Welt entfernt von dem, was man von zu Hause gewohnt ist. Und “unsere” Welt kann sich an der Offenheit, der Hilfsbereitsachaft, der Entspannheit und der Lebenslust, mit der die Menschen an diesem für uns so paradiesischen Ort leben und mit der sie fremden Menschen gegenübertreten, nur ein Beispiel nehmen!
Neben einer sehr intensiven Zeit und den Erinnerungen daran nehmen wir vor allen Dingen eines mit: die Sehnsucht, eines Tages wieder unter diesen und mit diesen wunderbaren Menschen an diesem einzigartigen Ort ein wenig Zeit verbringen zu können.
5. August 2011 at 18:27
Sehr schöner Bericht, macht Lust darauf diesen ganz anderen Teil Kolumbiens zu besuchen. off the beaten track…