Ja, schon klar, einige von Euch werden jetzt denken: Nun braucht sie auch nicht mehr damit anfangen! Wie vom Erdboden verschluckt, wenn sie weg ist! Das ist richtig, doch möchte ich mich gegen Ende des ersten Abschnitts meiner Reise wenigstens noch kurz zu Wort melden, ein kleines Resümee liefern, bevor dann Felix, ich nehme es zumindest mal an, in wenigen Wochen wieder das Ruder übernimmt und Euch mit seinen mitreißenden Berichten beglückt.
Ich bin ja eher so diejenige, die alles in ihr kleines Tagebuch kritzelt und wahrscheinlich wird niemand jemals erfahren, was da eigentlich alles wichtiges notiert wurde… ;)!
Nun also: Ich werde ein paar Fragen beantworten, die mir so als die wichtigsten erschienen…
1. “Was machst Du da eigentlich?”
Ich bin nun gute 2 Monate unterwegs, habe meine ersten zwei Wochen in Córdoba verbracht, wo ich mit einer nicht so wirklich herzlichen Frau, ihrer Tochter und ein paar anderen Studenten zusammengewohnt habe. Córdoba ist mit 1,3 Millionen Einwohnern nach Buenos Aires die zweitgrößte Stadt Argentiniens und war somit ein netter gemütlicher Einstieg in Südamerika bevor es dann in die wirkliche Großstadt ging! Ich hatte täglich 4 Stunden Sprachunterricht — es gab also Zeit genug richtig anzukommen, sich zu akklimatisieren und in das südamerikanische Leben einzufinden. Man plant dafür immer relativ wenig Zeit ein und doch dauert es einfach bis man wirklich da ist! In der Schule lernte ich auch Valentina kennen, eine Schweizerin aus Zürich, was sich als großes Glück herausstellte — ab diesem Zeitpunkt erschlossen wir die Welt um uns gemeinsam und konnten beim Bierchen all die Dinge austauschen, die einen am Anfang so anstrengen;)! Das war der Einstieg in diesem Land!
Dann gings weiter nach Buenos Aires — schon nochmal ein ganz anderes Kaliber: Der Großraum fasst über 11 Millionen Einwohner, ein riesen Krake, der kein Ende nimmt! Ich wohne hier zusammen mit einer ca. 50jährigen Frau an der größten innerstädtischen Straße der Welt, der 9 de Julio (20 Spuren), wir haben uns von Beginn an sehr gut verstanden, ich fühlte mich willkommen und gleich zu Hause, eine sehr große Wohnung + Hund und Katze — schön! Allein die Hygiene lässt z.T. zu wünschen übrig — man arrangiert sich eben :)!
Anfang November begann mein Praktikum in der NGO “ETIS”, die Jugendliche in sozial schwachen Randgebieten der Stadt (hier ‘villas’ genannt) unterstützt (auf ihrem Blog unter dem 9. November findet ihr ein Bild von mir mit meinem Chef: http://blogdeetis.blogspot.com/2010_11_01_archive.html). Sie selbst haben ihren Sitz in der Provinz Buenos Aires, also etwas ausserhalb des Stadtkerns, was für mich 1,5 Stunden Arbeitsweg bedeutet — einfach! Ja, das heißt täglich 3 Stunden in Zug und U-Bahn — man gewöhnt sich an alles! Nach einigen Wochen Einarbeiten und Orientieren wurde es zu meiner Aufgabe die gesammelten Daten der Jugendlichen auszuwerten, eine Art winzige soziologische Studie zum Effekt der Unterstützung und dem Potenzial weiterer Projekte. Daneben begleite ich meine Kollegen auf Treffen in den jeweiligen Vierteln und Versammlungen von Politikern, anderen NGOs etc. — wirklich spannend und das auch noch mit richtig lieben Kollegen!
Darüberhinaus genieße ich selbstverständlich das Leben in Buenos Aires, erschließe mehr und mehr die Stadt (meist mit Valentina an meiner Seite), koste das immense kulturelle Angebot aus (Konzerte, Theater, Jazz-Festival…), genieße das noch (!) verfügbare leckere, auch vegetarische Essen — kurz, lasse es mir saugut gehen ;)!
2. “Ist es das was du wolltest?”
Mein größtes Ziel dieses Auslandaufenthalts war, alleine in einer großen Stadt in einem anderen Land für einen bestimmten Zeitraum heimisch zu werden. Dazu gehören, eine Aufgabe haben, ein Teil der Gesellschaft sein, verstehen lernen — nicht als Tourist alles nur von außen betrachten, sondern mit hineinschlüpfen und von innen heraus eine neue Kultur erschließen.
Ich bin nun gute zwei Monate unterwegs und fühle mich als wären es 5; ich glaube das ist ein gutes Zeichen. So viel hat man schon erlebt, so sehr gehört man schon dazu, weiß wie es läuft… Wie beeindruckend wenig Zeit man braucht, um vertraut zu werden und als eine von allen durch die Straßen zu laufen. Nur der erste Tag ist richtig hart. Schon ab dem zweiten kann man bereits den gleichen unbeteiligten Blick in der U-Bahn aufsetzen, routiniert das Ticket kaufen und innerlich schmunzelnd die Touris beobachten, die nicht wissen, dass man im Bus nur mit Münzen zahlen kann ;)! Für diesen kurzen Abschnitt ist man ein Teil von hier, hat seinen Alltag, sein Arbeitsleben, seinen Hausschlüssel — und das ist so wertvoll! Nicht zuletzt durch die Arbeit kann ich mir ein viel vollständigeres Bild von Buenos Aires machen, kenne nicht nur das herausgeputzte Stadtzentrum, sondern auch das echte Leben. Ich hätte nie gedacht, dass es ein so anderes Kennenlernen sein würde, so viel intensiver, realistischer! Das zu bemerken war gleichzeitig etwas desillusionierend: Da ist man schon so viel rumgekommen in der Welt, aber welchen Ort hat man eigentlich wirklich kennengelernt? Hat man nicht immer nur an der Oberfläche gekratzt? Ich weiß es jetzt und muss gestehen, dass dies der erste Ort außerhalb Deutschlands ist, bei dem ich behaupten kann, ihn zu kennen… Ja, ich kann ohne Zweifel sagen, dass dieses Ziel erfüllt wurde :)!!
Das zweitgrößte Ziel bestand darin meine zweite Fremdsprache auszubauen, spanisch sprechen zu lernen ohne, dass so viel Energie und Konzentration kostet, sie anwenden können! Und auch damit bin ich mittlerweile recht zufrieden (und das heißt schon ziemlich viel :)), man lernt quasi den ganzen Tag ohne es zu merken. Am Anfang bemerkt man die Fortschritte deutlicher, damit muss man sich erstmal abfinden. Ich würde nicht behaupten, dass ich gut spreche — es geht immer so viel besser, ein Fass ohne Boden! Aber wenn ich jetzt an meine ersten Tage denke ist der Unterschied schon bedeutend. Normale Konversationen gehen ohne große Schwierigkeiten. Die Treffen vom Goethe-Institut mit Argentiniern, die deutsch lernen wollen und solchen wie mir sind dabei sehr hilfreich und manchmal erinnert man sich garnicht, in welcher Sprache man gesprochen hat :)! Ein kleines Glückserlebnis war, als ich die spanische Version von Allendes ‘Geisterhaus’ zur Hand nahm und sie plötzlich lesen konnte — als wäre ich vorher Analphabetin gewesen :)! Also, ja, Ziel erreicht :)!
3. ” Wie sind die denn?”
Darüber könnte man sich einige Stunden auslassen. Klar ist auf jeden Fall, dass Buenos Aires nicht Argentinien ist. Es ist die Hauptstadt, die sich nach Europa reckt und mit dem Rest des eigenen Landes erstmal nicht viel zu tun haben will. Die Porteños, wie die Bewohner von Buenos Aires genannt werden, sind ein ganz spezielles Völkchen. Der größte Teil stammt von Europäern ab, die hierher auswanderten. Das führt zu einer spannenden kulturellen Mischung, aber auch einem überall präsenten inneren Identitätskonflikt, wie mir scheint. Ich habe das bevor ich kam bereits ähnlich in Büchern über die Stadt gelesen und wusste nie was das heißen soll. Aber es ist tatsächlich so: Die Architektur erinnert vielerorts an Europa, Paris z.B., und überhaupt kann Buenos Aires sehr europäisch wirken, gibt sich auch die größte Mühe, alles aufzuweisen, was eine europäische Großstadt zu bieten hätte (z.B. Kulturevents), andererseits sind und bleiben wir eben in Südamerika und alles ist ganz anders, womit sich die Porteños scheinbar nicht richtig abfinden können — eine einzige Hin- und Hergerissenheit zwischen dem Stolz auf ihre Stadt und dem unerfüllten Wunsch zu Europa zu gehören ist die Folge! Es kommt mir vor als versuchten die Porteños ihr Selbstbewusstsein zu stärken, indem sie betont begeistert von ihren Errungenschaften (z.B. bzgl. Literatur, Filme, Events) erzählen, als wollten sie sagen “Schau, wir sind auch wie Europa, wir haben auch x und y!”. Und unsereins steht da und würde am liebsten sagen: “Ja, schön, aber ihr seid eben trotzdem ganz anders!” Sehr kompliziert das Ganze ;)! Die höchste Psychologendichte weltweit kommt also nicht von ungefähr…
4. “Und sonst?”
Sonst möchte ich einfach einige südamerikanische bzw. portenische Impressionen notieren, die vielleicht helfen sich ein Bild von hier zu machen:
— man begrüßt und verabschiedet sich mit 1 (!!!) Kuss auf die rechte Wange
— ganz viele schwangere Frauen und kleine Kinder
— es werden zu Hauf kostenlose kulturelle Aktionen veranstaltet (z.B. Konzerte, Kino auf der Plaza de Mayo, Ballett auf der 9 de Julio), diese Events sind immer von sehr direkter Werbung für das Land begleitet Kindertagesstätten und psychatrische Einrichtungen erhalten kaum finanzielle Unterstützung und kämpfen um ihr Überleben: Das steht nicht im Verhältnis!
— überall Kiosks
— neben europäisch aussehenden Menschen, auch Ureinwohner (kleiner, dunklere Hautfarbe, tief schwarzes Haar)
— uralte Autos: Schrottmühlen mit Stil 😉
— die Mülltrennung wird von den Cartoneros nach der Dämmerung übernommen: Sie reißen die Tüten auf der Straße auf, sammeln Papier und Pappe und sind die Einzigen, die sich z. T. noch mit Kutschen fortbewegen.
— überall gibt es Empanadas (gefüllte Teigtaschen), meine liebsten sind mit Maispampe und Käse oder Aubergine 😉
— die Polizei ist korrupt und scheint die meisten Stunden ihrer Dienstzeit rumzustehen und Mädchen hinterherzugucken
— alles ist laut, chaotisch und versmoggt
— es gibt viele sinnvolle Gesetze (z.B. Luftverschmutzung), aber niemand kontrolliert sie (Willkommen in Südamerika!)
— Studenten, die als Nebenjob mit oft mehr als 8 Hunden (gleichzeitig) spazieren gehen (oder sie einfach an einen Baum binden und Café trinken gehen…)
— Alles ist sehr politisch — die 3 derzeit wichtigsten Worte: Néstor Kirchner (kürzlich verstorbener Expräsident), manifestación (= Demonstration, es kann jeden Tag sein, dass die bereits erwähnte 9 de Julio unangekündigt von einer Gruppe Demonstranten gesperrt wird) und Bicentenario (Argentinien feiert seine zweihundertjährige Unabhängigkeit)
— meistens läuft der Fernseher
— sie haben für alles Verkleinerungsformen: Zwiebelchen, Zigarettchen, Käffchen
— viele schöne elegante Menschen, die sehr auf ihr Äußeres zu achten scheinen + verliebtes turteln und küssen in der Öffentlichkeit (in jeder Altersklasse 😉 )
— die Ampelmännchen sind nicht grün, sondern weiß!
— offen, kontaktfreudig, immer für ein Schwätzchen mit irgendwem zu haben (Kioskmensch, Busfahrer, Tankstellenwart…)
— das Standard-Frühstück ist ein Cortado (Espresso mit Schuss Milch), Medialunas (kleine süße Croissants) und ein kleiner frisch gepresster Orangensaft
— eins der häufigsten Themen: wir haben so gelitten bei der Wirtschaftskrise 2001 und alle haben uns im Stich gelassen!
— die Mehrheit hat dunkle Haare, naturblond nur extrem selten (ich falle also bisschen auf…)
— die Sirenen von Rettungswagen und Polizei klingen als würden jegliche Klingeltöne ausprobiert
— Hola bonbon!/ Que hermosa!/ Que belleza! oder einfach ein Hinterherpfeifen sind Teil der Kultur, ignorieren und weitergehen…
— viele Leute bekreuzigen sich, wenn sie an Gotteshäusern vorbeifahren
— verrückter Verkehr: es gibt quasi keine Fußgängerampeln
— man trinkt Fernet Branca mit Cola oder Mate (Tee der aus einem ausgehöhlten Kürbis mit einem Metallröhrchen getrunken wird, man kippt immer wieder heißes Wasser nach, deswegen laufen die Leute -auch bei der Hitze- mit Thermoskanne rum)
— Zimmerpflanzen in monsterriesig — überall: Ficcus, Gummibaum…
— die Kontraste liegen so eng beieinander: viele sehr arme Familien leben auf den prachtvollen Plazas, dem Aushängeschild der Stadt
— es ist heiß: der Sommer kommt erst richtig und es hat bereits gute 30°C
— es gibt keine Busabfahrtzeiten, er kommt oder eben nicht, man muss den Arm heben (als Deutsche/r am Anfang garnicht so leicht, das widerstrebt einem doch sehr), um ihn anzuhalten
— richtiges weggehen geht ab 1.30 Uhr los, dann aber auch bis 7.00 Uhr morgens und mit Frühstück im Anschluss
So ist das hier!
5. “Und nun?”
Ich sitze hier jetzt Mate trinkend am PC und versuche der Hitze zu entkommen…
In ein paar Tagen ist Weihnachten, Gwenn (ein Freund von der Uni, der gerade am reisen ist) kommt für die Feiertage wieder in die Stadt, ich ziehe am 24.12. mit ihm in ein Hostel und damit endet der erste Abschnitt meiner Reise. Ich habe es sehr genossen, zur Abwechslung, mal allein unterwegs gewesen zu sein; unabhängig Entscheidungen treffen, sein Ding machen — das ist wunderbar! Genauso freue ich mich jetzt jedoch bereits auf die Reise mit der vertrauten Person an meiner Seite — war ja schon eine ganze schön lange Zeit (für unsere Verhältnisse zumindest:)!!).
Weihnachten werden wir bei ca. 36°C mit Valentina und ihrem Freund feiern, uns die von der lieben Familie geschickten Leckereien schmecken lassen (wir haben sogar Glühweingewürz und Lebkuchen ;)), schön essen und trinken, uns es gut gehen lassen! Dann sind es nur noch wenige Tage voller Vorfreude bis Felix kommt und ab da beginnt der zweite Abschnitt und die Reise geht gemeinsam weiter :)! In wenigen Wochen werden wir dann gemeinsam durch die Natur wandern, Ruhe, Entschleunigung, reine Luft — eine unglaubliche Vorstellung und bitter nötig nach ein paar Monaten Großtadt;)! Und wir haben noch so viel Zeit das alles zu genießen — wunderbar :)!
Ihr Lieben, ich hoffe es geht Euch gut!
Falls man sich nicht nochmal liest oder spricht, wünsche ich wunderbare glückliche Festtage und kommt gut ins neue Jahr!
Ich denke an Euch,
eure Elisabeth
1. Januar 2011 at 22:28
Also wir möchten hier auch nochmal offiziell proklamieren dass das ein großartiger Bericht ist! Wurde letztens Abends hier in Berlin vorgelesen und wir haben gelacht und uns gefreut und uns alles vorgestellt. Wirklich sehr fein beobachtet, ich wette die Buenos Airer würden sich ertappt vorkommen wenn sie wüssten wie genau du sie und ihre Stadt im Blick hast…
Ganz liebe Neujahrsgrütze!
21. Dezember 2010 at 13:04
und was war mit tango?haste oder haste nicht?dich von einem der es wissen muß rumschieben lassen?das stell ich mir aber auch noch schön vor..
21. Dezember 2010 at 12:53
das ist ein wundervoller bericht!!!!!!!!!!alle fragen komplett beantwortet, ich bin quasi in der stadt und kann mir alles genau vorstellen!und gebe nur 1!!küßchen zur begrüßung…vielen, vielen dank.…man mag sich kaum vorstellen wieviel liter matetee oder so man braucht bei der affenhitze, um diesen artikel zu schreiben..und dann in die welt..zu uns! zu schicken..tausend küsse von hier(ist bei uns so üblich:))deine me
19. Dezember 2010 at 21:43
einmal kurz erwaeht worden… pfff