“Lange dauert es nicht, bis unsere Stirnlampen die einzige Lichtquelle sind. Hier, so nah am Äquator, fällt die Sonne am Abend wie ein toter Vogel vom Himmel.”
Im Juni 2011 wandern wir sechs Tage lang durch die Einsamkeit der kolumbianischen Berge. Im Rahmen des Reisereportagen-Wettbewerbs von The Travel Episodes entstand auf Grundlage unserer Reisenotizen diese Geschichte. Sie hat es leider nicht unter die besten Sieben geschafft, womit bei knapp 200 Einsendungen aber auch nicht unbedingt zu rechnen war. Wir sind trotzdem ein bisschen stolz drauf und wollen diese unvergessliche Erfahrung jetzt hier mit Euch teilen. Folgt uns nun auf unserem Weg in den mystischen Páramo…
Als wir uns an einem kühlen Junimorgen in vollkommener Dunkelheit auf einen uralten amerikanischen, zum Schulbus umfunktionierten Lastwagen setzen, sind wir geradezu euphorisch. Chivas, wie diese antiquarisch anmutenden Busse genannt werden, sind in Kolumbien in ländlichen Gebieten das zuverlässigste Transportmittel, wenn man an abgelegene Orte gelangen möchte. Der hölzerne, zu allen Seiten offene Aufbau dieser Ungetüme transportiert alle lebensnotwendigen Güter in die unzugänglichsten Regionen des Landes. Wir befinden uns im Herzen des größten Kaffee-Anbaugebietes des Landes, der Eje Cafetero. Die Chiva startet an diesem Morgen in Villamaria, einem kleinen Vorort der Provinzhauptstadt Manizales. Nachdem sie sich behäbig in Bewegung gesetzt und sich der beißende Gestank der schwarzrußigen Abgaswolke verzogen hat, fühlen wir uns beinahe schwerelos. Wir haben es uns auf dem Dach gemütlich gemacht und sind in heller Vorfreude ob der bevorstehenden Tage.
Ein paar Tage lang wollen wir gemeinsam mit unseren beiden kolumbianischen Freunden zu Fuß den Nationalpark Los Nevados erkunden. Die beiden möchten sich als Bergführer selbständig machen und zuvor auf eigene Faust neue Wanderrouten ausmachen. Die Fahrt zieht sich über vier Stunden, obwohl nur wenige Kilometer zurückgelegt werden müssen. Unser Weg führt entlang steiler, sattgrüner Abhänge und wird in regelmäßigen Abständen von Erdrutschen behindert, die sich lawinenartig über die in den Berg geschlagenen Straßen ergießen. Ergebnis der heftigen Niederschläge dieser verheerenden Regenzeit. Und der vollgesogenen, weil kahlgeschlagenen, Berghänge. Ganz schlechte Kombination. Trotzdem – oder gerade deswegen – könnte es noch Ewigkeiten so weitergehen. Eine abenteuerliche Fahrt. Je höher wir kommen, desto verwunschener wird die Kulisse. Zu beiden Seiten türmt sich eine schier undurchdringbare grüne Wand auf. Das dauerfeuchte Klima hat einen dichten Wald aus moos- und bromelienbedeckten Baumriesen geschaffen, die von flechtenbewachsenen Lianen überwuchert werden. Den einzigen farblichen Kontrast dazu bildet in regelmäßigen Abständen das türkis leuchtende Gefieder eines aufgeschreckten Momotus Momota, dessen anmutige Erscheinung durch die deutsche Nomenklatur in tragischer Weise verschandelt wird. Denn auf der Suche nach einer Sägeracke würden die meisten Menschen wohl eher einen fragenden Blick in ihren Werkzeugkasten werfen, als durch tropische Nebelwälder zu streifen.
Als uns der Busfahrer das Ende unserer Fahrt bedeutet, finden wir uns vor einer Holztafel wieder, die uns den Weg über eine Lichtung zu einem Haus weist. Wir befinden uns nun im Santuario de Fauna y Flora Otún Quimbaya, einem kleinen Schutzgebiet, welches sich dem Erhalt seltener Tier- und Pflanzenarten verschrieben hat. Die wenigen verbliebenen Passagiere verladen ihre Transportgüter auf Pferde, verstreuen sich geschäftig in alle Himmelsrichtungen und werden nach wenigen Metern vom immergrünen Dickicht verschlungen. Die Äquatorsonne steht senkrecht am Himmel und scheint ihre ganze Kraft darauf zu richten, auch den letzten Tropfen Wasser zu verdunsten. Obwohl wir uns knapp 2.000 Meter über dem Meeresspiegel befinden, beginnen wir unsere Wanderung in einem Klima, das dem eines Tropenhauses in nichts nachsteht. Ohne einen einzigen Schritt getan zu haben, sehnen wir schon jetzt eine kühle Brise herbei. In der Luft liegt der süßlich-faulige Geruch eines langsam verrottenden und sich stetig erneuernden Waldes. Er atmet schwer aus jeder Pore, ist er doch seinem Schicksal, geweiht: Hier explodiert das Leben, dort drüben erstickt es im Ringen um das lebensnotwendige Tageslicht.
Einige Stunden später haben wir den andinen Nebelwald hinter uns gelassen und uns fast 1.500 Höhenmeter nach oben gearbeitet. Sind es zu Beginn noch die unerträgliche Luftfeuchtigkeit und das angsteinflößende Gebrüll der Brüllaffen, die unseren Atem rauben, haben wir nun vor allen Dingen gegen die Kurzatmigkeit und den einsetzenden, immer stärker werdenden Regen anzukämpfen. Als wir uns am Nachmittag unserem Tagesziel nähern, setzt die Dunkelheit bereits ein. Lange dauert es nicht, bis unsere Stirnlampen die einzige Lichtquelle sind. Hier, so nah am Äquator, fällt die Sonne am Abend wie ein toter Vogel vom Himmel.
Wir sind mit unseren Kräften am Ende und nass bis auf die Socken. Beinahe fünf Monate sind wir zu diesem Zeitpunkt bereits in Südamerika unterwegs. Den überwiegenden Teil dieser Zeit haben wir zu zweit in den Bergen und Wäldern dieser endlos weiten Landschaften verbracht. Immer zu Fuß, den Proviant für zwei Wochen im Rucksack tragend. Unsere Fußsohlen sind aufgrund dieser Belastung weitestgehend unverwundbar. Weder der durch die senkrecht stehende Tropensonne aufgeweichte Asphalt in den Dörfern entlang der Karibikküste, noch ein Spaziergang über die scharfkantigen Korallenfelsen an der Kolumbianischen Pazifikküste vermochten es bis dahin, unserer rauen Hornhaut ernsthaften Schaden zuzufügen. Doch dieser kräftezehrende Tagesmarsch durch mehrere Klimazonen hindurch hat nicht nur all unsere Sinne beansprucht, sondern auch unseren Füßen eine Lektion erteilt. Sie sind durch das lange Laufen in den durchnässten Wanderstiefeln so dermaßen aufgeweicht, dass wir uns an einigen Stellen offene Blasen gelaufen haben.
Plötzlich verändert sich irgendetwas. Zunächst bleibt es ein diffuses Gefühl. Doch je weiter wir laufen, desto klarer wird uns, dass hier irgendwo ein Feuer brennen muss. Tief hängende Wolken und dichter Nebel beschränken unsere Sicht auf wenige Meter, sodass es uns schwer fällt, die Orientierung zu behalten. Ein Blick auf unsere provisorisch zusammengeschusterte Karte lässt eigentlich keine menschliche Siedlung in der näheren Umgebung vermuten. Uns bleibt für den Moment nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten und unsere Aufmerksamkeit von den brennenden Schmerzen in unseren Füßen abzulenken. Wir erfahren, dass in dieser Region die illegale Brennholzgewinnung den Baumbestand dezimiert und ein großes Problem darstellt. Angesichts der momentanen Wettersituation ist es für uns allerdings nur schwer vorstellbar, wie hier irgendetwas Feuer fangen soll. Eine Flutwelle scheint uns wahrscheinlicher. Also laufen wir weiter in die Dunkelheit.
Als wir uns bereits mit dem Gedanken anfreunden, an einem abschüssigen Berghang unser Nachtlager aufzuschlagen, dringt plötzlich eine Stimme zu uns durch. Offenbar haben uns unsere Stirnlampen angekündigt. Die hagere Gestalt, deren nahende Silhouette wir nun langsam erkennen können, erweckt jedenfalls nicht den Anschein, als komme unser Besuch besonders überraschend. Anfang vierzig wird er wohl sein, für kolumbianische Verhältnisse recht hoch geschossen. Ohne Frage ein schöner Mann. Wortkarg aber durchaus freundlich weist er uns den Weg zu seiner Bleibe. Dichter Rauch steigt aus der kleinen Hütte auf, und spätestens als wir uns durch die kleine hölzerne Eingangstür ducken und einen Blick ins Innere erhaschen, wird uns klar, dass es der Lagerfeuergeruch ist, der uns den Weg hierher gewiesen hat. Wir befinden uns in der Finca von Andrés Machete und seiner Frau Marilou, die hier gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn wohnen. Ihr bescheidenes Zuhause besteht aus einer fensterlosen kleinen Blockhütte, in dessen Mitte sich eine offene Feuerstelle befindet, die zugleich Herd, Heizung und Innenbeleuchtung ist. Neben dem Haus ein Verschlag, in dem sich ein Schlafzimmer befindet. Hier oben, auf knapp 3.500 Metern, herrscht ein feucht-kühles Klima, die Nächte sind ganzjährig empfindlich kalt. Es ist gerade so genug Platz für uns alle und wir sind heilfroh, ein warmes Plätzchen gefunden zu haben, an dem wir uns und unsere Ausrüstung notdürftig trocknen können. Es wird so gut wie nicht gesprochen. Aber es ist keiner dieser so gefürchteten unangenehmen Schweigemomente, in denen man innerlich panisch nach irgendeinem Anhaltspunkt sucht, die quälende Stille zu durchbrechen, in der Annahme, einzig ein Gespräch könne gegenseitiges Interesse wahrhaftig bekunden. Im Gegenteil. Diese Ruhe schafft Platz, den eigenen Gedanken des Tages nachzuhängen und die Andersartigkeit dieses Ortes zu begreifen.
Andrés sitzt tief gebeugt über einem großen Eimer winzig kleiner Kartoffeln, die er in einem irrsinnigen Tempo schält, ohne seinen Blick auch nur ein einziges Mal darauf zu richten. Ob er selbst überhaupt wahrnimmt, welcher Arbeit seine Hände beinahe mechanisch nachgehen? Sein Kopf jedenfalls scheint woanders zu sein. An der Wand hängt ein altes, batteriebetriebenes Kofferradio, aus dem, neben dem üblichen monotonen Dauerrauschen, auch ab und an die wärmenden Klänge der Cumbia tönen. Das spärliche Licht der Feuerstelle spiegelt sich in seinen funkelnden Augen und gibt sein wahres Alter Preis. Anfang dreißig, älter wird er kaum sein. Seit jeher lebt er hier oben, am Rande des Páramos, der für das Hochland Kolumbiens so charakteristischen Vegetationszone, die man sonst kaum irgendwo auf der Welt findet. Doch selbst so weit abseits der urbanen Geschäftigkeit müssen die Menschen hart für ihre vermeintliche Freiheit kämpfen. Der Grund, auf dem das Haus der Familie steht, wird seit Generationen bewirtschaftet. Viel länger schon, als der Nationalpark überhaupt existiert. Trotzdem sind die Bauern dem Staat ein Dorn im Auge, denn sie kultivieren die geschützten Böden. Heute werden die alten Bauernhöfe zwar geduldet, können allerdings lediglich die grundlegende Subsistenz der Familien sicherstellen.
Außerdem befinden sie sich in einer politisch sehr instabilen Region. In Tolima, wenige Kilometer entfernt, wurden 1964 die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) gegründet, und bis heute gilt die Region als einer der sicheren Rückzugsorte der Guerilla. In der Vergangenheit schwappte die Welle der Gewalt, La Violencia, immer wieder auf die kleinen Dörfer der Umgebung über und machte auch vor den kleinen Parzellen der Bergbauern keinen Halt. Mal waren es die FARC, Mal die befeindeten Paramilitärs, ein anderes Mal der kolumbianische Staat, die ihnen ihre Existenz streitig machten. Die Menschen hier stehen wortwörtlich zwischen den Fronten. Sie sind den unterschiedlichsten Interessen hilflos ausgeliefert und dazu gezwungen, sich jeweils auf die Seite des Stärkeren zu schlagen. Sie müssen in Abhängigkeit der jeweiligen Handlungsalternativen sehr variabel agieren. Opportunismus scheint die einzig sinnvolle Strategie, sich seine Existenz zu erhalten. Auf der anderen Seite entsteht dadurch ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit, da die individuelle Handlungsautonomie gegen das Zugeständnis körperlicher Unversehrtheit eingetauscht wird. Erlernte Hilflosigkeit kann man so etwas nennen. Andrés verliert nicht viele Worte, doch was er berichtet, erschüttert uns. Vater und Onkel hat er hier oben verloren. Sie hatten sich geweigert, ihr Land den anrückenden Rebellen zu überlassen und um ihr weniges Hab und Gut gekämpft. Vergebens. Ein anderer erzählt uns verbittert, man habe ihm seine hochschwangere Frau genommen. Die Schicksale ähneln sich auf beklemmende Art und Weise.
Als wir am nächsten Morgen widerwillig in unsere noch immer nassen Klamotten steigen, machen wir uns auf den kurzen Weg zur Finca El Jordán, die Andrés‘ Bruder Pedro mit einigen Milchkühen und Pferden bewirtschaftet. Sie ist etwas geräumiger, aber genauso spartanisch. Wir verbringen den Tag in der näheren Umgebung und steigen einen steilen Abhang hinauf, in der Hoffnung, einen der seltenen Bergtapire zu Gesicht zu bekommen. Mehr als ein paar frische Hufabdrücke finden wir nicht. Das schmälert aber unser Erleben nicht im Geringsten. Tiefe Dankbarkeit erfüllt unsere Herzen. Es ist der Ort, den wir später als das „schönste bewohnte Fleckchen Erde“ unserer Reise erinnern werden. Die Faszination liegt im Zusammenspiel: auf der einen Seite die mystische Landschaft, die sich im ständigen Versteckspiel mit den Wolken und dem immer wieder aufziehenden Nebel befindet. Auf der anderen Seite die Offenherzigkeit und Gastfreundschaft ihrer Bewohner, die die Geschichten ihres isolierten Lebens, hoch oben in den Bergen, bereitwillig mit uns teilen.
Am Abend sitzen wir abermals in einer der für die Region so charakteristischen fensterlosen, rauchtrüben Küchen um die offene Feuerstelle. Pedro ist – anders als sein Bruder – zum Scherzen aufgelegt und gibt in seinem unverwechselbaren Kauderwelsch herzerwärmende Anekdoten preis. Es seien nicht Viele, die den weiten Weg hierher auf sich nähmen, doch die Wenigen kämen meist aus den großen Städten und seien noch nie zuvor in ihrem Leben in den Bergen gewesen. Er erzählt von „eitlen Püppchen“, die die Wanderwege mit ihren Absatzschuhen pflügen und „arroganten Halbstarken“, die keine Ehrfurcht vor der Natur haben. Der Letzte von ihnen habe sich aufgeführt wie einer der verhassten spanischen Konquistadoren. Sie gaben ihm frische Milch zum Frühstück und sahen dabei zu, wie das Unheil seinen Lauf nahm. Man habe dem von Darmkrämpfen Geplagten in seiner Verzweiflung eine Labtablette angeboten, um die Milch in seinem Magen zu stocken: „Der Blick, ihr hättet seinen Blick sehen sollen!“. Die Männer lachen Tränen. Wir essen gemeinsam zu Abend. Es gibt hier grundsätzlich immer das gleiche: Kartoffeln, Maisfladen und hausgemachten Bauernkäse, der durch seine zähe, gummiartige Konsistenz erst durch das Eintauchen in Panela, heißes Zuckerrohrwasser, genießbar wird.
Ein Alter ergreift das Wort. Seine gedrungene Statur wird durch seine gebückte Haltung akzentuiert und zeugt von einem langen, arbeitsreichen Leben. Die milchtrüben Augen stehen in starkem Kontrast zu seinem spitzbübischen Grinsen, mit dem er seine Geschichten erzählt. Ob er sich der beinahe karikaturesken Wirkung seiner äußeren Erscheinung bewusst ist? Ein türkisfarbener, knielanger Pullover lässt die Konturen seines Körpers komplett verschwinden. Die Brustmitte ziert ein großer neongelber Tweety-Aufnäher, der fröhlich in die Runde grüßt. Ein Bild für die Götter! Die Anwesenden kleben an seinen Lippen. Es fällt schwer, seiner nuscheligen Aussprache zu folgen, doch seine langsamen, mit Bedacht gewählten Worte fördern einen immensen Erfahrungsschatz zutage. Er ist der Älteste hier oben. 85 Jahre alt sagen sie, auch wenn das wohl eher eine Schätzung ist. Aber er hat Dinge mit seinen eigenen Augen gesehen, an die man hier mit Schrecken zurückdenkt. Als der berüchtigte Guerillero Jacinto Cruz Usma alias Sangrenegra in den 1960er Jahren die Wiesen und Seen mit dem Blut seiner Opfer rot färbte, war der Greis ein junger Mann. Und in den Hütten beteten die Menschen, der Schrecken möge ein Ende nehmen.
„Da oben an der Lagune hat er fünf Polizisten umgebracht. Bei Gott, ich schwöre ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Eine Ewigkeit hab‘ ich mich nicht mehr da hoch getraut. Eine Schande ist das, da oben liegt meine Kindheit begraben. Geht rauf, schaut euch diesen zauberhaften Ort an, aber passt auf, dass ihr euch nicht verlauft!“
Am nächsten Morgen brechen wir zu ebendieser Lagune auf. Zum Abschied gibt es heiße Milchsuppe. Das augenzwinkernde Angebot, die frisch gemolkene Milch zu probieren, schlagen wir trotz vorhandener Labtabletten dankend aus. Der Abschied fällt schwer, denn wir können nur erahnen, welche Geschichten hier noch auf uns warten würden. Ein paar Stunden weglosen Fußmarschs durch den Páramo trennen uns von der Laguna La Leona, an deren Ufer wir 4.000 Meter über dem Meeresspiegel die kälteste aber zugleich sternenklarste Nacht der gesamten Reise verbringen. Von oben betrachtet soll der Bergsee aussehen, wie eine schlafende Löwin. Naja, sehr abstrakt, wenn überhaupt. Wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass man den besten Blick auf den Bergsee vom Gipfel des Paramillo de Quindío, eines erloschenen Vulkans auf 4.750 Metern, hat. „Bei so wenig Sauerstoff können einem die Pferde schon mal durchgehen“, denke ich mir, während ich krampfhaft versuche, die Physiognomie eines Löwen in Einklang mit dem zu bringen, was ich da unten im Tal sehe. So oder so ähnlich muss es wohl auch den Herren Humboldt und Bolívar gegangen sein, die sich vor knapp 200 Jahren etwa zeitgleich in dieser Gegend aufhielten.
Der Weg vom Gipfel führt in engen Kehren über ein steiles schwefelgelbes Geröllfeld wieder hinab ins Tal. Zur Abwechslung scheint heute einmal die Sonne, sodass wir es ruhig angehen lassen. Wir breiten all unsere Sachen zum Trocknen aus, füllen unsere Trinkwasservorräte auf und genießen diesen einmaligen Ort. Wir sitzen inmitten eines Meeres von Frailejones oder Espeletia. Die Verwandten unserer heimischen Sonnenblume wachsen hier zu kleinen Bäumen heran und werden über zwei Meter hoch. Im deutschen Sprachraum heißen sie schlicht: Schopfrosetten. Wirklich bitter. Biologen scheinen mitunter ein undankbares Völkchen zu sein.
Auf dem Weg zurück kreuzt unser Weg eine Ansammlung von Häusern, die um eine kleine Dorfschule herum gebaut sind. Unsere beiden Weggefährten Fredy und Manuel halten ein kurzes Schwätzchen mit einem der Dorfbewohner. Man kennt sich offenbar. Die beiden lassen uns zurück und kommen nach kurzer Zeit mit einem kompletten Hinterbein eines Schweines zurück. Ein Mädchen in einer der Hütten ist 16 geworden. Wichtiges Alter, da lässt man sich hier nicht bitten. Es gäbe doch von allem genug und außerdem könnten wir das doch bestimmt gut gebrauchen. Können wir, aber sicher doch! Von nun an also setzen wir unseren Weg mit einem Schinken im Gepäck fort, der beinahe so viel wiegt wie unser Rucksack. Gegen Abend nähern wir uns einer Wellblechhütte und werden schon von weitem mit zähnefletschendem Gebell empfangen. Der Köter sieht ziemlich garstig aus. Mehr Hyäne als Hund. Eine der lästigen, weil ständig wiederkehrenden, Begleiterscheinungen, wenn man in Südamerika zu Fuß unterwegs ist. Es folgt das immergleiche Ritual: beide Seiten versuchen, durch theatralische Drohgebärden und übertriebene Aggression beim jeweils anderen Eindruck zu hinterlassen. Ein ziemlich simples Spiel. Actio und Reactio eben. Wird aber dann meist recht schnell durch einen drohend in die Luft gehaltenen Wanderstock oder Stein beendet.
Wir werden von Don Alirio empfangen, einem Mittvierziger, der seinen kleinen Bauernhof ganz alleine bewirtschaftet. Ein paar zerrupfte Hühner, ein schreiender Esel und ein psychopathischer Hund. Die Milch, aus der er den Bauernkäse zubereitet, kauft er hinzu. Seine Frau und die kleine Tochter sind gerade über Nacht zu Besuch, sie leben unten in der Stadt, kommen aber regelmäßig vorbei, um den Käse abzuholen und auf dem Markt zu verkaufen. Die Kleine soll schließlich zur Schule gehen. Als wir unseren Schinken auspacken, bricht großes Gelächter aus. Kommt eben nicht alle Tage vor. So will es sich Alirio auch nicht nehmen lassen, uns zur Feier des Tages Chricharron, frittierte Schweineschwarte, zuzubereiten. Ein himmlischer Genuss und die erste Abwechslung seit vier Tagen.
Ein kurzer Trampelpfad weist uns den Weg zu unserem Nachtlager an einer nahegelegenen Lagune. Bereits nach wenigen Metern wird die kleine Hütte vom Nebel verschluckt. Am nächsten Morgen bauen wir schon vor Sonnenaufgang unsere Zelte ab und machen uns auf den Weg. Wir umlaufen den kleinen Bergsee am Ufer entlang und ziehen uns an dicken Grasbüscheln einen steilen Abhang hinauf. Gleich dahinter beginnt ein Gebiet, das im Volksmund den Namen Valle de los Perdidos trägt. Vor diesem Sektor des Nationalparks wurden wir ausdrücklich gewarnt. Bei schlechten Sichtverhältnissen sei es unmöglich, sich zu orientieren. Die Geländebeschaffenheit tut ihr übriges. Die Landschaft ist gekennzeichnet durch ausgedehnte Hochmoore, schroff abfallende Klippen und das Nichtvorhandensein natürlicher Orientierungspunkte. Keine Bäume, nur Frailejones. Keine markanten Berge, nur Bergkuppen, hinter denen sich alles oder nichts verbergen kann. Keine Wege, nur unsere Wanderkarten und das Wissen unserer beiden Begleiter. Das Wetter meint es allerdings gut mit uns, sodass wir keine Probleme haben, uns unseren Weg zu suchen.
Wir nehmen eine Abkürzung durch eine enge Schlucht und erhoffen uns, in den senkrechten Felswänden Nistplätze von Eulen zu finden. Wir werden fündig. Allerdings nicht nur oben an den Felswänden, sondern auch unten am Boden. Wir entdecken zerfetzte Kaninchen vor ihrem Bau. Und kurz dahinter den frischen Fußabdruck eines Pumas. Wir werden von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl heimgesucht. Irgendwie scheint die Natur hier noch intakt zu sein. Trotzdem beschleicht uns ein leicht mulmiges Gefühl. Wir beschließen, enger beieinander zu laufen, auch wenn wir uns eigentlich allein aufgrund der Größe unserer Gruppe keine Gedanken machen müssen. Am oberen Ende des Cañons beginnt eine flache Hochebene, von der aus wir einen atemberaubenden Blick ins Tal haben. Schon von weither vernehmen wir schrille Trillerpfeifen und laute Rufe, die durchs Tal hallen. Von unserem erhöhten Punkt können wir fünf Männer auf Pferden ausmachen. Angesichts der Warnungen, die uns mit auf den Weg gegeben wurden und des wenig erbaulichen Namensgebung denken wir natürlich gleich ans Schlimmste. Leider werden unsere Befürchtungen durch die Männer bestätigt. Sie suchen im Auftrag der Familie nach Camilo, einem 19-jährigen Anthropologie-Studenten aus Bogotá, der von einer Exkursion in den Nationalpark nicht mehr zurückgekehrt ist. Drei Wochen sind nun bereits vergangen. Der arme Kerl hatte Isomatte, Schlafsack und seine Gitarre bei sich, allerdings nur Proviant für wenige Tage. Schlechte Aussichten hier draußen. Um die Moral der Truppe scheint es dementsprechend auch nicht gut bestellt. Mürrisch ziehen sie ihres Weges.
Man erzählt sich hier den bekannten Fall eines Lehrers, der sich im Rahmen eines Schulausflugs von seiner Schulklasse entfernte und von da an als vermisst galt. Vergeblich wartete man auf ein Lebenszeichen, auch Geier sah man keine kreisen. Bis der gute Mann eines Tages in der Gesellschaft bekannter Guerilleros gesehen wurde: seines bürgerlichen Lebens überdrüssig, hatte er sich den FARC angeschlossen.
Am Ende des Tages kehren wir in die Finca La Primavera ein. Dort treffen wir auch wieder auf die Suchmannschaft. Sie schauen mittlerweile noch missmutiger drein, als zuvor. Die Moral scheint auf dem Tiefpunkt einer noch zu erfindenden unterirdischen Skala angelangt zu sein. Doña Mabel, die Hausherrin, berichtet uns von handfesten Streitereien. Die anwesenden Bauern und die Familie des bedauernswerten Camilo werfen der Suchmannschaft Phlegma und dilettantisches Verhalten vor, die Helfer ihrerseits sind völlig entnervt und schimpfen über die Dummheit des Jungen und die Ausweglosigkeit der Suchaktion. Noch am selben Abend werden sie die Finca verlassen und die Suche einstellen.
An diesem Abend sitzen wir ein letztes Mal um die offene Feuerstelle. Nachdenklich sind wir. Und unendlich dankbar. Der Rauch zieht in jede Pore unserer Haut und jede Faser unserer Kleidung; der Geruch wird uns noch Wochen später begleiten. Als unsere Wanderung nach sechs Tagen in Salento endet, wird uns schlagartig klar, dass auch wir etwas verloren haben: ein Teil unserer Herzen bleibt auf alle Zeiten dort, weit oben in den Bergen des Páramos.
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