Wie soll man einen Blogeintrag beginnen, in dem man auf Ereignisse zurückblickt, die mittlerweile mehr als ein halbes Jahr zurückliegen? Wie soll es gelingen, über Erfahrungen entlang des Südpatagonischen Inlandeises zu berichten, wo wir uns doch in diesem Moment auf der anderen Seite des Äquators, also auf der Nordhalbkugel, befinden? Wie die unbegreiflichen Dimensionen der chilenischen Gletscher greifbar machen, wo unser Leben sich doch aktuell in etwa 9.000 Kilometern Entfernung unter der erbarmungslosen tropischen Sonne der kolumbianischen Andenausläufer zuträgt? Es fiele mir sehr viel leichter, an dieser Stelle einen Lobgesang auf die Menschen des kolumbianischen Amazonas-Gebietes anzustimmen oder meinen Gefühlen gegenüber den Heerscharen von Moskitos oder nicht vorhandenen Ventilatoren freien Lauf zu lassen. Kurz: die vergangenen drei Monate in Kolumbien Revue passieren zu lassen.
Und doch wäre es unheimlich schade, die dem vorangegangenen Monate gänzlich auszublenden, denn für das „hier und jetzt“ und vielleicht auch für das „morgen“ hatten und haben sie eine große, vor allen Dingen emotionale, Bedeutung. Ich will also versuchen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, ohne mich dazu verleiten zu lassen, die bloßen Fakten aneinander zu reihen. Denn die sind zu großen Teilen irrelevant. Die vergangenen sechs Monate waren gleichermaßen aufregend wie aufreibend. Es wurden auf vielerlei Ebenen große und kleine Entscheidungen getroffen, in denen sich Herz und Hirn gegenüberstanden und sich misstrauisch anblickten. Wie zwei ehemals beste Freunde, die sich – vor vielen Jahren zerstritten und seitdem gänzlich aus den Augen verloren – nach sehr langer Zeit zufällig an einem ihnen unbekannten Ort wiedersehen. Wie verhalte ich mich? Sage ich etwas oder laufe ich weiter und tue so, als habe ich nichts bemerkt? Hirn sagt „Lauf weiter, mach weiter wie bisher!“, Herz sagt „Bleib stehen, schau was passiert!“. Aber eins nach dem anderen.
“Aqui se necesita gente alegre.” (Lorenzo Sepulveda, Siedler am Lago O’Higgins)
Die zweite Hälfte unserer Reise entlang der Carretera Austral im Süden Chiles war vor allem geprägt durch Begegnungen mit Menschen, bekannten wie unbekannten. In Puerto Guadal, oberhalb des Ufers des unwirklich türkisfarben leuchtenden Lago General Carrera, fanden wir in Cristián einen Bruder. Einen Bruder im Geiste und Bruder im Herzen. Einen Gleichgesinnten, der wie wir angetrieben wird durch seine Liebe zum Reisen, seine Neugierde gegenüber Menschen und seinen Willen, einen Beitrag zu einem gesünderen Zusammenleben zwischen Mensch und Natur zu leisten. Nicht zu vergessen die inbrünstige Liebe, mit der wir uns allabendlich in bester Stimmung mit roten Augen und handlicher 1-Liter-Bierflasche der Zubereitung unseres Essens widmeten. Im Wesentlichen abwechselnd Pfannkuchen und Pizza.
Cristián hatte nur wenige Tage zuvor seinen Campingplatz „Alma Verde“ eröffnet und empfing uns als seine ersten Gäste. Wir kamen für eine Nacht und blieben fast drei Wochen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatten wir auf Reisen wieder einen Ort gefunden, an dem wir uns zu Hause fühlten. Es fehlte nichts. Ein gutes, einfaches Zeltleben mit unkomplizierten Menschen inmitten traumhafter Natur. Hier kam es uns zum ersten Mal: „Eigentlich wirklich ein lebenswertes Fleckchen Erde hier, im Süden Chiles“, dachte sich wohl jeder von uns für sich.
Was folgte, veränderte viel in und mit uns. Mitte März waren wir buchstäblich am Ende der Straße angekommen. 1.200 Kilometer zwischen Puerto Montt und Villa O‘Higgins, für die wir uns mehr als vier Monate Zeit gelassen hatten. Eine Straße wie aus einem Traum. Vom ersten bis zum letzten Kilometer spektakulär. Die letzten 250 Kilometer zwischen Cochrane und Villa O’Higgins sind so wild, dass sie die perfekte Kulisse für jeden Abenteuerfilm hergeben würden. Majestätischer Primärwald, der auf alle Zeiten in dichten Nebel und Regenwolken eingehüllt scheint. Nur vereinzelt lichtet er sich, um den Häusern einiger weniger Siedler Platz zu machen, die sich an diesem verlassenen Stückchen Land eine kleine Existenz erwirtschaften, meist durch Viehhaltung. Ansonsten Schotterpiste und nahezu unversehrte Natur. Die Straße verläuft sich in einer Ansammlung windgepeitschter Holzhäuser mit qualmenden Aluminium-Schornsteinen, deren beschlagene Fensterscheiben trotz Spätsommer wirkliche Weihnachtsstimmung verbreiten. Bis man realisiert, dass man in Villa O’Higgins ist, ist man auch schon fast wieder draußen, obwohl das Dorf seit Ankunft der Straße im Jahre 1999 langsam aber kontinuierlich wächst. Damals eine kleine Siedlung, die nur aus ein paar wenigen Menschen und deren Bauernhöfen bestand, leben hier heute immerhin 600 Leute.
Doch die Erfahrung hat schon oft gezeigt: dort, wo die Straße aufhört, fängt es an, interessant zu werden. Zwei Bootsstunden über den Lago O’Higgins entfernt liegt Candelario Mancilla, benannt nach einem jungen, abenteuerlustigen Mann von der Isla Chiloé, der sich vor nicht einmal 100 Jahren als erster Mensch hier niederließ. Er bewies Geschick und Geschmack, wählte einen Ort mit fantastischem Blick über den See, errichtete ein einfaches Holzhaus mit dem Holz der umliegenden Wälder, brachte Vieh, setzte Forellen und Lachse im See aus, pflanzte allerhand Fruchtbäume, Stachel- und Himbeersträucher, gründete eine Familie und legte sich am siebten Tage zurück, um zu betrachten, was er da so erschaffen hatte, mit bloßem Willen und Muskelkraft. Zumindest muss es sich so ähnlich angefühlt haben. Will man ein Gefühl für den Mut und die Unerschrockenheit der patagonischen Pioniere erfahren, sollte man unbedingt hierher kommen. Wie einsam, wie gottverlassen und wie frei muss es sich anfühlen, alleine in einem Kanu über diesen unfassbar großen See zu paddeln, der ringsum von den größten Gletschern außerhalb der Antarktis gespeist wird und über das Jahr verteilt mehr stürmische als sturmfreie Tage erlebt? Wie muss es sich anfühlen, nur mit einer Hand voll Werkzeug ausgestattet irgendwo eine Schneise in den Wald zu schlagen und zu entscheiden: hier bleibe ich, das ist mein Zuhause.
Wir bleiben einige Tage im Haus von Doña Justa, einer der Töchter des ehrwürdigen Candelario. Eine Frau in ihren 80ern, voller Witz und klar wie ein Kurzer. Sie lebt dort mit ihren Söhnen Ricardo und Tito, die mittlerweile auch schon in die Jahre gekommen sind. Seit einigen Jahren gibt es hier so etwas wie Tourismus. Einen sehr sanften allerdings. Vorwiegend junge Backpacker, die von hier aus zu Fuß oder per Rad über die Grenze nach Argentinien gelangen wollen. Im Garten kann gezeltet werden, alternativ stehen sechs einfache Gästezimmer zur Verfügung. Hier und da ein paar Ausflügler, die mit einem Ausflugsschiff zum mächtigen Glaciar O’Higgins fahren und anschließend die Nacht in Candelario Mancilla verbringen, das außer den paar Häusern der Familie nur noch eine Grenzstatio zählt. Wieder einmal erweist sich das Töchterlein als Herzensbrecherin, zumal sie zu dem Zeitpunkt, am Ende der Saison, erst das dritte Kind ist, das dieses Jahr den Weg zu den Mancillas gefunden hat. Also durchaus eine willkommene Abwechslung. Elisabeth und das Töchterlein bleiben eine ganze Woche lang bei Justa, Tito und Ricardo und erleben neben Ausritten, Kirschen pflücken und Marmelade einkochen vor allen Dingen eine unvergleichliche Gastfreundschaft. Sie gehören zur Familie, sitzen und essen abends, wenn die müden Wandersleute sich in ihre Zelte zurückgezogen haben, gemeinsam in der Stube. Und erzählen sich am wärmenden Holzofen Geschichten, wie sie eben nur ein Ort am Ende der Welt schreibt. Pumas, die Pferde anfallen zum Beispiel. Oder wie die Brüder als Kinder und Jugendliche wagemutig auf die vorbeitreibenden, haushohen Eisberge kletterten und, als ihre Mutter davon erfuhr, jedes Mal eine Tracht Prügel kassierten. Und es trotzdem wieder und wieder machten, denn wie sollte man sich denn sonst die Zeit vertreiben? Der Lauf der Zeit gibt ihnen Recht, denn schon lange treiben hier keine Eisberge mehr vorbei. Der Gletscher hat über die letzten fünf Jahrzehnte 18 Kilometer an Länge verloren. Früher konnte man ihn vom Haus aus sehen, heute liegt er weitere eineinhalb Stunden Bootsfahrt entfernt. Die Jugendlichen von heute, so sie es denn gäbe, müssten sich da etwas anderes einfallen lassen.
Während also die Frau und das Töchterlein eine magische Woche erleben, mache ich mich auf den Weg zu einem Aussichtspunkt über den O’Higgins-Gletscher, den viertgrößten in Patagonien. Berichte geschweige denn Wegbeschreibungen gibt es so gut wie keine. Was vielleicht auch daran liegt, dass es noch nicht einmal einen eindeutigen Weg gibt. Bevor ich im Morgengrauen auf meinen Alleingang aufbreche, gibt mir Ricardo noch ein paar Tipps. Hinter dem Baum rechts laufen, nach der Flussüberquerung nicht dem Tierpfad in den Wald folgen, sondern entlang des Waldrandes aufsteigen. 42 Kilometer, für die ich zwei Tage einrechne, liegen zwischen mir und dem Gletscher. Wie ich nicht viel später lernen werde, ist der Weg jedoch nur hin und wieder eindeutig, über weite Strecken laufe ich zwar nicht orientierungs- aber doch weglos durchs Gebirge. Als ich schließlich ein Hochtal erreiche, das links und rechts durch steil abfallende Felswände begrenzt wird, ist der Weg eindeutig und ich bin erleichtert. Mein Weg kreuzt sich zuerst mit dem zweier Wildpferde und schließlich, nach über fünf Stunden, die mehr mit Laufen als Gehen zu tun haben, mit Nicole und Misael. Bei meiner Recherche war ich schnell darauf gestoßen, dass ich ganz ohne Hilfe den Gletscher nicht würde erreichen können. Daher hatte ich mich noch in Villa O’Higgins über Funk bei Misael Tisnado angekündigt. Dieser würde mich, so meine Hoffnung, über den Abfluss des Chico-Gletschers rudern können, der zu Fuß aufgrund der Wassertemperatur, der Strömung und der nicht unerheblichen Tiefe unmöglich zu bewältigen ist. Ich wusste lediglich, dass mich einer von nur zwölf Pobladores (Siedler) erwarten würde, welche an diesem riesigen See ein Leben in absoluter Einsamkeit und Abgeschiedenheit führen. Kein Telefon, kein Fernsehen. Lediglich eine kleine Solarzelle, um die zwei Glühbirnen in dem bescheidenen Haus während der Abendstunden zu erleuchten. Dreimal am Tag gibt es Funkkontakt ins Dorf. Ich rechnete mit einem alten, grauen Mann mit schwieligen Händen und lederner, wettergegerbter Haut. „Von den Jungen will hier keiner mehr leben, ohne Frau und das ganze Jahr auf sich alleine gestellt“, hatte man mir vorher gesagt.
Umso überraschender trifft mich der Anblick eines hübschen jungen Mädchens mit hohen Wangenknochen und einem herzerwärmenden Lächeln. Nicole. Der Hausherr ist gerade nicht da. Der Empfang ist herzlich und ehe ich mich versehe, habe ich einen Mate und etwas zu Essen in der Hand. Eigentlich will ich gleich weiter laufen, gegen die Langsamkeit und Ruhe dieses Ortes komme ich jedoch nicht an. Besuch ist selten hier unten. Und wenn er denn Mal kommt, wird alles stehen- und liegengelassen, man nimmt sich Zeit. Und das gilt für beide Seiten. Also wärme ich mich am Ofen und gönne meinen geschundenen, völlig aufgeweichten Füßen eine Pause. Aufgrund des sumpfigen Untergrunds war ich die komplette Strecke in Sandalen gelaufen, um nicht ständig die Schuhe aus- und wieder anziehen zu müssen. Nach einer Weile kommt Misael zurück. Er hatte vier verlorengegangene Kühe zusammengetrieben und gleich eine davon geschlachtet. Das Fleisch wird ihn hier gemeinsam mit dem Gemüse aus seinem kleinen Gewächshaus für einen Monat lang satt halten. Auch er entspricht nicht dem Bild eines Siedlers, das ich erwartet hatte. Groß gewachsen und stark wie ein Bär, um die 40 Jahre alt. Ich erfahre, dass er erst seit drei Jahren hier wohnt. Das Grundstück von sage und schreibe 6.000 Hektar war für seinen Onkel nicht mehr zu bewältigen. Davor hatte er eine Weile lang im Dorf gelebt und sich seinen Lebensunterhalt als Besatzungsmitglied auf einem der Ausflugsschiffe zum Gletscher verdient. Auf Dauer war das nichts für einen, der im zarten Alter von 17 Jahren bereits Herr über 18.000 Hektar war. Der von frühester Kindheit an lernte, was es heißt, auf sich allein gestellt zu sein. Die tiefen Narben auf beiden Schultern sind Zeugnis der unzählbaren Mehlsäcke, die sich in seine Haut eingeschnitten haben, weil er sie in früheren Jahren sechs Stunden lang durch die Berge zum Haus tragen musste. Heute kommt immerhin alle zehn Tage ein Schiff, das die Siedler mit dem Nötigsten versorgt. Mehl, Zucker, Rotwein.
Ich fühle mich so wohl, dass ich am liebsten bleiben würde. Aber ich weiß auch, was irgendwo hinter dem gegenüberliegenden Bergrücken auf mich wartet. Seit ich zum ersten Mal ein Foto vom Aussichtspunkt über den O’Higgins-Gletscher gesehen habe, weiß ich, dass ich ihn mit meinen eigenen Augen sehen will. Als mich Misael über den Gletscherabfluss rudert, habe ich innerlich eigentlich schon beschlossen, dass ich nach meiner Rückkehr noch ein paar Tage dort bleiben möchte. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich allerdings noch nicht, dass mir gar keine andere Wahl bleiben wird. In meinem Übereifer – ich bin das erste Mal auf der gesamten Reise alleine unterwegs und kann mein eigenes Tempo laufen – habe ich die Strecke, für die eigentlich drei Tage kalkuliert sind, in einem Tag durchgezogen. War gelaufen, bis die Sonne hinter den vergletscherten Bergen verschwunden und ich am Ziel meiner Träume angekommen war: vor mir bis zum Horizont nur Eis. Und doch nur ein winziger Ausschnitt des Südpatagonischen Eisfeldes (Campo de Hielo Sur), des größten zusammenhängenden Gletschergebietes der südlichen Hemisphäre außerhalb der Antarktis. Unvorstellbare Dimensionen die mich ungläubig erstarren lassen.
Leider kann ich mich schon zu diesem Zeitpunkt kaum von den höllischen Knieschmerzen ablenken, die mich wohl infolge der Überbelastung nach 12 Stunden querfeldein heimgesucht haben. Ich errichte mein Nachtlager direkt auf der mächtigen Endmoräne zwischen uralten Bäumen und hoffe, dass die Nacht Besserung bringt. Eine unbegründete Hoffnung, wie sich herausstellt. Trotzdem will ich es mir nicht nehmen lassen, zum Sonnenaufgang nochmal die 40 Minuten zum Aussichtspunkt zu gehen. Dort angekommen, kann ich mittlerweile mein linkes Knie nicht mehr beugen und beginne, mir langsam Sorgen zu machen. Immerhin trennen mich mindestens vier, in diesem Zustand wahrscheinlich eher sechs, Stunden von Misael und Nicole. Ich beginne, von der Wärme des Hauses tagzuträumen. Auch der wahrscheinlich eindrucksvollste Sonnenaufgang meines Lebens vermag es in diesem Moment nicht, mich da wieder rauszuholen. Ich beruhige mich selbst: immerhin für weitere fünf Tage habe ich Essen dabei. Ich schleppe mich zurück zum Zelt und beschließe, zwei Nächte lang im dort auszuharren und anschließend zurück zum Haus zu laufen, um dort das Versorgungsschiff abzupassen.
Zwei ewig lange Tage vergehen, in denen ich mich einsamer als jemals zuvor fühle. Eine kleine Gruppe von Leuten, denen wir schon in Villa O’Higgins begegnet waren, kreuzen unerwartet vor meinem Zelt auf, spenden mir Trost und Gesellschaft und wollen mich überreden, mit ihnen abzusteigen. Schweren Herzens lehne ich ab, kann zu dem Zeitpunkt keinen Schritt mehr tun, ohne vor Schmerz aufzustöhnen wie ein simulierender Fußballspieler. Als ich die Gruppe langsam aus den Augen verliere, fühle ich mich am schönsten Ort der Welt so elend und allein wie selten zuvor. Ich denke an Frau und Töchterlein und bilde mir ein, einen riesigen Fehler begangen zu haben, indem ich alleine loszog. Den folgenden Tag kann ich nur in Bruchstücken erinnern, weil meine ganze Aufmerksamkeit meinen Knien gilt, die ich mittlerweile beide nicht mehr beugen kann. Geschlagene fünf Stunden gehe ich weglos bergab – rückwärts, weil’s so am erträglichsten ist.
Irgendwie schleppe ich mich durch den Wald und als ich dann endlich hoch oben vom Berg das Haus sehen kann, schießt mir das Adrenalin durch die Adern. Für einen Moment glaube ich an eine Blitzheilung, bis mir bewusst wird, dass es einfach nur unendliche Erleichterung ist, die mich für einen Moment lang meine Knie vergessen lassen. „Wann kommt denn das Schiff?“, frage ich einen alten Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Gletscherabflusses. „Ist schon weg. War gestern schon da, weil das Wetter stabil war“, antwortet mir der Siedler, der mich auf dem Hinweg noch mit Hilfe seiner sieben unfreundlichen Hunde von seinem Grundstück vertreiben wollte, mich aber nun, da ich ein Weilchen mit ihm geschnackt habe, zum Mate in sein Haus bittet. Ich lehne ab, will einfach nur zurück zum Haus. „Dieses verschissene Kackboot“, denke ich laut vor mich hin, während ich da so realisiere, dass ich die 28 verbleibenden Kilometer noch irgendwie zu Fuß bewältigen muss. Immerhin habe ich Zeit. Ich werde mit offenen Armen und frischem Brot begrüßt. Nicole und Misael hatten von der anderen Wandergruppe mitbekommen, dass ich in Schwierigkeiten steckte und sich Sorgen gemacht. Mit ihrem Angebot, mich ein paar Tage bei ihnen im Haus auszuruhen, kommen sie meiner Frage zuvor.
Die Tage werden zu den intensivsten in Patagonien überhaupt.
In den Bergen schneit es zum ersten Mal in dieser Saison, sodass wir drei Tage lang gemeinsam in der warmen Stube verbringen. Es sind lehrreiche Stunden. Ich erfahre, mit welchen Entbehrungen das Leben so weit weg von allem auch heute noch verbunden ist. Aber auch – und das wiegt viel schwerer – mit welcher Freiheit und Zufriedenheit es einhergeht. Genügsamkeit. Das ist es, was es den Menschen hier ermöglicht, ihr Leben als privilegiert wahrzunehmen. Eine Existenz, die vollkommen im hier und jetzt verankert ist. Ein Leben in, mit und von der Natur, in unmittelbarer Abhängigkeit vom Wetter. Gedacht und geplant wird immer nur in Jahreszeiten. Die wichtigste Aufgabe des Sommers besteht darin, genügend trockenes Feuerholz für den Winter heranzuschaffen. Im Winter wird am Haus gearbeitet. Die einzige Bestimmung eines Smartphones besteht in Ermangelung eines Telefon- geschweige denn Internetsignals in der Möglichkeit, Fotos zu machen und zu zeigen: Saufgelage mit den Nationalpark-Rangern, Pferde, die hinter dem Boot durch den eiskalten Fluss gezogen werden, der See, der bei minus 20 Grad in blütenreinem Weiß erstrahlt. Ich verbringe Stunden damit, Sauerkirschen zu pflücken und Marmelade einzukochen. Wir backen Empanadas, kochen herzhafte Eintöpfe mit dem Fleisch aus dem Schuppen, lauschen ganze Abende lang wortlos dem hypnotisierenden Singsang der traditionellen Gauchomusik (Milonga) und folgen – teils amüsiert, teils besorgt – den Funkunterhaltungen zwischen den einzelnen Siedlern. Die Tante ordert ein Kilo Tomaten mit der nächsten Versorgungsladung, dem Nachbarn wurden in der Nacht schon wieder drei Lämmer vom Puma gerissen, der Bruder in kritischem Gesundheitszustand lebt ebenfalls alleine auf einer Finca am anderen Ende des Sees und hat sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet.
Es fällt mir unheimlich schwer, zu gehen. Und das liegt beileibe nicht daran, dass ich immer noch ernsthafte Zweifel daran habe, dass mich meine Knie halbwegs unbeschadet zurück nach Candelario Mancilla tragen können. Zurück zu Doña Justa, Ricardo und Tito, zurück zu meinen beiden Mädels. Und doch schleppe ich mich irgendwie „nach Hause“. Auf dem Rückweg werde ich melancholisch. Ich begegne erneut einer Herde Wildpferde, hinter mir breitet sich das in seiner schieren Größe nicht in Worte zu fassende Eisfeld aus und ich komme nicht umher, mir selbst zu versichern, dass ich wieder kommen werde. Das nächste Mal mit meinen beiden Mädchen. Herz und Hirn haben sich nun wiedergefunden, eben wie zwei ungleiche Freunde. Zuvor waren sie zerrissen zwischen Idealismus und Realismus. Herz sagt: „Es passiert gerade etwas Besonderes, gib dich hin!“. Das (Touristen-)Hirn sagt: „Nett war’s, weiter geht’s!“ Nun flüstern, nein rufen sie mir einstimmig zu: „Nur Mut, du hast einen Ort gefunden, der tiefe Sehnsüchte erweckt, der dich träumen lässt. Packe deine Träume an, kämpfe für sie. Warum denn eigentlich nicht?“
Wir kommen wieder, bald sogar…
19. Oktober 2017 at 17:44
Ich bin tief beeindruckt… du hast mich gerade für einen Moment aus meiner schnellen, zivilisierten, digitalisierten etc. Welt gerissen. “only the essential” Wir verschwenden zu viel Zeit für bedeutungslosen Kram. was du beschreibst sind Erfahrungen, die dich für immer begleiten werden. Es ist auch so geschrieben dass man sich richtig reinversetzen kann…
Wegen deinen Knien: Hattest du trekking poles dabei? was war dein gesamt- pack weight? Und hab ich glaube schonmal gefragt, aber welche Kamera und welches Objektiv schleppst du so mit dir rum?
ps: Dein Vater hat schon auch recht ne 😉 bin mega froh dass dir nichts passiert ist!!
1. Oktober 2017 at 17:20
Mein Hirn sagt mir, dass es unnötig riskant war, eine solch anspruchsvolle Wanderung in den unbewohnten Weiten Patagoniens ganz allein zu unternehmen. Aber wenn ich so deinen neuen Text lese (nun schon zum 2. Mal), so kann ich das irgendwie schon verstehen: es ist das Herz, das dich zu diesem Entschluss gebracht hat. Und natürlich fällt mir jetzt im Nachhineien noch ein großer Felsbrocken vom eigenen Herzen. Aber ich begreife wohl so langsam, wie sehr du von diesem Teil Patagoniens berührt bist und halte dir die Daumen, dass Herz UND Hirn dich euch weiterhin begleiten. Seid alle geküsst und gedrückt!